“Holo, was? Bitte nicht noch so ein innovatives New Work-Konzept!” schallt es aus den Management-Etagen zahlreicher Unternehmen. Damit Holokratie überhaupt eine Chance im heutigen Businessalltag hat, gilt es den Begriff selbst sowie dessen Vor- und Nachteile zu verstehen. Korrekt angewendet, kann es die Art und Weise, wie wir unternehmerische Zusammenarbeit begreifen, grundlegend verändern.
Das Konzept der Holokratie leitet sich aus Arthur Koestlers Buch „The Ghost in the Maschine“ ab, welches bereits 1967 veröffentlicht wurde. Hierbei entwickelte Koestler unter Verwendung des Begriffs „Holone“ eine Systemtheorie. Beschrieben wird ein Teilsystem, welches wiederum Teil eines übergeordneten Systems ist. Der ehemalige Programmierer Brian Robertson bediente sich dieser Theorie und entwickelte sie zu einer Managementlehre weiter, welche er seit dem Jahre 2007 als Partner der Firma Holocracy-One stetig erweitert.
Vom Kontrollwahn zur regelbasierten Freiheit?
Um es ein wenig rabiat zu formulieren: Für die Anhänger*innen der Holokratie ist ein regelgetriebenes und auf Kontrollmechanismen angewiesenes Management eine Entmündigungsoffensive, welche jeglicher selbstwirksamen Handlung von Arbeitnehmer*innen entgegensteht. Hiernach werden Arbeitnehmende durch Kontrollwahn und Hierarchie ihres eigenen Denkens und Handelns und der damit einhergehenden Verantwortung entledigt, indem man ihnen diese von vorneherein gar nicht erst zusteht. Man denke dabei zurecht an den Leitspruch der Aufklärung von Immanuel Kant: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Menschen, die einer solchen Organisation angehören, sollen ihr Tagewerk erledigen und werden in klaren Linearstrukturen gemanagt, was sie jeglichem selbstorganisierten Arbeiten beraubt. Dem wirkt das Konzept der Holokratie entgegen.
Eine Holokratie basiert dabei nicht auf einem willkürlichen Konzept, in welchem sich jede*r selbst seine Aufgabe sucht und es keinerlei Prüfungsmechanismen mehr gibt. Viel mehr werden klare Strukturen geschaffen, welche die höchstmögliche Gestaltungsfreiheit erlauben. Anstelle der oben genannten hierarchisch angeordneten Linearstrukur werden selbst organisierende Kreise etabliert, welche eigene Themenbereiche bearbeiten (z.B. Personal, Vertrieb, Marketing, Buchhaltung, etc.). Der Unterschied zu fest strukturierten Abteilungen ist der, dass es sich um eine offene Kreisstruktur handelt, d.h. alle Mitarbeitenden haben die Möglichkeit, die Kreise zu wechseln, ihren Arbeitsbereich dadurch zu erweitern und mehrere „Rollen“ innerhalb der Organisation einzunehmen. Was chaotisch klingt, folgt einem festen Prozedere. Jede Rolle hat definierte Pflichten und Entwicklungsmöglichkeiten.
Egal wie du es machst, Hauptsache das Ergebnis stimmt
Gestaltungsfreiheit bietet sich hierbei in der Umsetzung der Pflichten. Die Aufgabenstellung ist klar, doch die Umsetzung kann kreativ gestaltet werden. Eine Haltung, die auch in unserer Arbeitswelt immer mehr Zuspruch gewinnt, da es zunehmend nicht mehr um die Arbeitszeit, sondern um das Ergebnis eines Projektes geht. Dieses effizienzbasierte Denken schlägt sich beim Konzept der Holokratie auch in der Meetingstruktur nieder. Hierbei gibt es nur noch komplexere Meetings, in welchen es beispielsweise um Führungsfragen, Kultur oder die Unternehmensvision geht. Kleinere Meetings werden in ihrer Komplexität reduziert und widmen sich ausschließlich operativen Fragen. Die Agenda wird hierbei von allen mitgestaltet, da in einer Holokratie gleiches Mitspracherecht für alle gilt, jedoch darf diese im Nachgang nicht mehr geändert werden. So soll vermieden werden, dass eine nachträgliche Bewertung der Relevanz von Themen erfolgt. Gleichzeitig verhindert es, dass die Tagesstruktur zeitlich verändert wird und sich Mitarbeitende im Diskurs in Nebenthemen verirren, die auf der Agenda gar nicht verzeichnet waren. Um die Struktur beizubehalten und dabei die Gestaltungsmöglichkeiten nicht einzuschränken, gibt es zusätzlich sogenannte „Links“, welche als Verbindungsleute zwischen den einzelnen Kreisen fungieren und den stetigen Austausch untereinander fördern. Innerhalb agiler Unternehmen würde diese Personalie bestenfalls unter den Titel „Scrum Master“ fallen, die ähnliche Aufgaben erfüllen.
Eine Führungskultur ohne Führung
An dieser Stelle konnte der Begriff der Holokratie möglicherweise schon ein wenig „entzaubert“ werden, denn es handelt sich nicht um eine revolutionäre Chaos-Methode, die Manager*innen in Angst und Schrecken versetzen soll. Vielmehr bedient sich die Holokratie der Lehren der Motivationspsychologie und vertraut mehr auf Rituale, als auf Regelwerke. So werden Entscheidungen nicht Top-down übermittelt und zur Ausführung freigegeben. Stattdessen wird sich auf gemeinschaftliche Entwicklung geeinigt und es werden „Nudges (Anreize)“ geschaffen, um neue geistige Startpunkte zu setzen oder den Perspektivwechsel zu fördern. Die Organisation bedient sich dabei der Zerlegungsstrategie, deren Wirksamkeit bereits im Jahre 2007 durch das Team von Ken Gilhooly nachgewiesen wurde. Hiernach werden Objekte beispielsweise gedanklich in ihre Einzelteile zerlegt, um neue Anwendungsbereiche für sie zu finden. In der Holokratie bedient man sich dieser Methode, um für die eigene Dienstleistung/das eigene Produkt neue Märkte und Zielgruppen zu erforschen. Man nutzt gezielt die Motivation der Mitarbeitenden, welche durch die Selbstorganisation ihrer Teams in der Lage sind, an relevanten Themenbereichen nachhaltig mitzuwirken und Probleme im Sinne der Inkubation (= Probleme arbeiten in uns weiter) fortwährend weiterzudenken und fortzuentwickeln. Die Holokratie bietet also den größtmöglichen Spielraum um divergentes Denken (= Die Fähigkeit kreative/innovative Ideen hervorzubringen) und kognitive Kontrolle (= Loslösung von der erstbesten Idee, um über den Tellerrand hinaus neue Lösungen zu entdecken) zu stärken.
Holokratie – Ein unternehmerisches Managementmodell der Zukunft?
Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die Holokratie als Managementansatz künftig durchaus eine reelle Chance hat, sich nachhaltig in unserer unternehmerischen Welt durchzusetzen. Sie ist nicht frei von strukturellen Kriterien, diese dienen jedoch der Schaffung der höchstmöglichen Gestaltungsfreiheit der eigenen Mitarbeitenden. Es werden neue Leitplanken innerhalb der Unternehmenskultur gesetzt, welche die Selbstwahrnehmung der Organisation auf wertschöpfende Art und Weise verändern können.
Unsere Unternehmenswelt beschwert sich seit Jahren über den hohen Fachkräftebedarf. Die Holokratie bietet hierbei ein geeignetes Gegenmodell zur gängigen Linearastruktur und entpuppt sich als attraktiver Indikator für die nachfolgenden Generationen Z und Alpha, die mehr von ihrem Arbeitsplatz erwarten, als ein ordentliches Gehalt und eine funktionierende Kaffeemaschine. Gestaltungräume, Förderung der Kreativität, freiheitliches Denken und Selbstwirksamkeit sind bessere Argumente, als ein festes Arbeitsverhältnis. Die Holokratie schafft attraktive Entwicklungsperspektiven, in welchen die Mitarbeitenden ihre Zukunft im Unternehmen aktiv mitgestalten können.